Ein Beitrag zur Geschichte der Eisenbahnfotografie:
Mit Carl Bellingrodt im Sommer 1936 durch Niederschlesien
7.6.1936
Ein Sonntag. Der Foto-Tag beginnt mit einem Bild der E18 15 mit dem Schnellzug D192, der planmäßig den Bahnhof Breslau Freiburger Bahnhof um 9:11 verließ.
Vorbemerkungen: Aus dem Freiburger Bahnhof gab es drei technisch-betrieblich mögliche Ausfahr-Richtungen, nämlich nach Königszelt (-Hirschberg), nach Liegnitz (-Dresden) und nach Rauden/später Raudten-Queissen (-Stettin).
Westlich des Bahnhofsvorplatzes am Nordflügel des Empfangsgebäudes gab es zwei weitere Gleise, die etwa ab 1900 dem Nahverkehr - vornehmlich Richtung Glogau - dienten. Auch sie waren 1936 mit Fahrdraht überspannt. Zu diesem Bahnhofsteil gehört auf jeden Fall das linke, der im Bild 19 sichtbaren Ausfahrsignale hinter dem Zug. Es war möglicherweise ein Gruppenausfahrsignal für beide Gleise. Vielleicht wurde aber auch nur aus einem der beiden Nahverkehrsgleise regelmäßig ausgefahren und das zweite Gleis diente nur der Aufstellung von Wagengarnituren.
Die Lok E18 15 hat keine Spitzenbeleuchtung eingeschaltet, das rechts hinter dem Zug sichtbare Ausfahrsignal zeigt Hp0 (Halt) und an den Fenstern sind keine Fahrgäste zu sehen, alle Fenster sind an diesem Sommertag geschlossen. Man könnte deshalb in einer ersten Erklärung annehmen, dass dieses Foto die Rangierfahrt zur Bereitstellung des Schnellzuges zeigt. Weil Gleis 1 kein mittiges Umfahrungsgleis hatte, mussten bereitzustellende Züge geschoben werden. Da die Uhr bereits 9:12 anzeigt, dürfte dieser Zug einige Minuten Verspätung bekommen haben. Es gibt ein links gelegenes Ausfahrgleis, dessen Ausfahrsignal Hp1 (Fahrt) anzeigt (beide Ausfahrsignale haben "Inversflügel") und es ist nicht ausgeschlossen, dass die sichtbare Nahverkehrsgarnitur am linken Bildrand zu diesem ausfahrenden Zug gehört. Ob es sich hier um den (ebenfalls?) verspäteten P746 Richtung Königszelt - wie auch der Schnellzug, also vor ihm fahrend - handelt, oder nicht, wäre reine Spekulation, aber eine Erklärung für eine Rangierfahrt des Schnellzuges und der Signalstellungen. Einen fahrplanmäßigen Personenzug Richtung Glogau (das wäre eine Parallel-Ausfahrt-Variante gewesen) kann ich um diese Uhrzeit nicht finden und die Züge Richtung Liegnitz verkehrten nach meinen Unterlagen zu dieser Zeit ausschließlich vom Hauptbahnhof aus.
Eine zweite Erklärung könnte sein, dass das Ausfahrsignal für den Schnellzug vom Stellwerkspersonal eilig in Grundstellung gebracht worden war, eine parallele Ausfahrt aus beiden Bahnhofsteilen fahrstraßenmäßig möglich ist, der Personenzug z.B. auch einen Leerzug Richtung Breslau-Mochbern darstellen könnte und wir den planmäßig verkehrenden D192 sehen.
Vielleicht ist aber keine der beiden Varianten zutreffend, denn wir erkennen auch auf Bild 21 im Hintergrund diese (?) Wagengarnitur und das würde darauf hindeuten, dass dieser Wagenpark dort steht. Welcher Zug fuhr dann aus dem Nahverkehrs-Bahnhofsteil aus?
Und um das Quartett der möglichen Lösungen vollständig zu machen: Eventuell hat CB zuerst das Triebwagenfoto Bild 21 angefertigt (die Garnitur im Hintergrund wurde dann eventuell gerade bereitgestellt) und wir sehen auf den Bildern mit dem Schnellzug tatsächlich den ausfahrenden Personenzug im Hintergrund.
Fragen über Fragen zu dieser fotografisch gut gestalteten Aufnahme des D192 und unter Bild 21 und 22 kommen noch zwei weitere Aspekte hinzu (s.u.).
Der Zug hat, soweit ich es erkennen kann, die Reihung Pw4ü, BC4ü, WR4ü, B4ü, BC4ü und C4ü. Einen Wagen der 1.Klasse sehe ich nicht.
Im Hintergrund des Fotos ist der Turm der Elisabethkirche hinter dem Westflügel des Freiburger Bahnhofes zu sehen. Am linken Bildrand erkennen wir ein zweistöckiges Backsteingebäude mit hohen Rundbogenfenstern und der Anschrift "Breslau" unter dem Dachsims. Dieses Gebäude gehört zum östlichen der 4 Güterschuppen (ursprünglich waren es sogar 5 Güterschuppen) des Freiburger Güterbahnhofes.
Auch auf Bild 21 erkennen wir wieder das markante Kopfgebäude des Güterschuppens mit der Anschrift "Breslau".
Auf den Bildern 20 und 21 sehen wir auch sehr gut, dass es ein Ausfahrsignal auf Höhe des Güterschuppens gab. Im Ausschnitt rechts des Bildes 20 sehen wir die aufgeschüttete Verlängerung des Mittelbahnsteiges, die etwa bis zum Ausfahrsignal reicht.
Die Verortung aller 4 Bellingrodt-Bilder ist grundsätzlich recht klar, doch der Ablauf der Zugfahrten für mich noch nicht aufgeklärt.
Ein vollständiger Gleisplan des Freiburger Bahnhofes aus dem Jahr 1936 oder eine Bahnhofsfahrordnung jener Zeit, die hier sehr helfen würden, liegen mir leider nicht vor. Die Gleispläne von 1875 und 1995 zeigen andersartige Gleislagen als Bild 19. Ebenso habe ich keine Abfahrtstafel, die beispielsweise die Bezeichnung der Nahverkehrsgleise offenbaren könnte.
Das Foto 23 ist vor der Erweiterung des Kleinbahnhofes (1938) entstanden und zeigt im Hintergrund das Bahnhofsensemble in der ursprünglichen Form. 1938 wurde ein Ergänzungsbau in nördlicher Richtung angefügt, der ebenso, wie das ursprüngliche Empfangsgebäude, auch heute noch vorhanden ist.
Die Häuser an der ehemaligen Rosenthaler Strasse (heute Pomorska) haben den Weltkrieg überstanden, auf einem Teil des Bahnhofsgeländes steht eine Tankstelle.
